„Wild Wild Web” von Tim Cole

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Wild Wild Web

Der Untertitel „Was uns die Geschichte des Wilden Westens über die Zukunft der digitalen Gesellschaft lehrt“ des Buches „Wild Wild Web“ von Tim Cole aus dem Jahr 2019 hält, was er verspricht. Es ist tatsächlich verblüffend, wie anschaulich Cole die gesetzlose Grauzone des ausgehenden 19. Jahrhundert im Wilden Westen Amerikas mit der zurzeit noch schwammigen Gesetzeslage im Hinblick auf die kommerzielle Verwertung von Verbraucherdaten vergleicht. Cole zieht eine schlüssige Analogie zwischen den „Gierkapitalisten“ des späten 19. Jahrhunderts, auch Räuberbarone (Robber Barons) genannt, wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie, Cornelius Vanderbilt, Edward H. Harriman oder John Pierpont Morgan und den großen Internet-Konzernen und Start-Ups von heute. Diese bereichern sich aufgrund fehlender „Rechtsstaatlichkeit“ im Internet an unseren Daten.

Erst der 26. Präsident der Vereinigten Staaten, Theodore Roosevelt, der als „Trust Buster“ in die Geschichte einging, zerschlug 1902 die alles beherrschenden Monopole mithilfe des Sherman Act 45. Er ebnete den Weg zum amerikanischen Sozialstaat, indem er wichtige Gesetze zum Schutz der Arbeiter sowie das Verbot der Kinderarbeit verabschiedete.

„Wir brauchen einen New Deal, eine klare Verantwortlichkeit“

Cole prognostiziert, dass die Historiker später vom Blattgold-Zeitalter des Internet sprechen werden. Damit werde die Zeit gemeint sein, in der Unternehmer wie Steve Jobbs, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Larry Page ähnliche Großunternehmen schufen wie die bereits zitierten Räuberbarone im Wilden Westen. Tim Cole’s Fazit: Wir brauchen einen New Deal für die Online-Welt, eine klare Verantwortlichkeit. Wir müssen lernen, souverän und selbstbestimmt mit unseren Daten umzugehen. Es gelte das Daten-Bewusstsein in Staat und Gesellschaft zu stärken.

Es sei gerade mal drei Jahre her, dass die Datenanalyse-Firma Cambridge Analytica die Daten von 87 Mio. Facebook-Nutzern an das Wahlkampfteam von Donald Trump weiterreichte und damit politische Entscheidungen mitbeeinflusst hat. Auch wenn das Unternehmen als Konsequenz Insolvenz anmelden musste, hätte es erst gar nicht passieren dürfen.

Cole’s Manifest: Macht kaputt, was euch kaputt macht!

Der digitale Kapitalismus, so Cole, sei von grundlegend anderer Natur als die in weiten Kreisen noch vorherrschende geistige Haltung des konkurrenzwirtschaftlichen Kapitalismus. Die reichsten Mitglieder der Gesellschaft profitieren von sinkenden Steuersätzen, bei gleichzeitig rasant wachsenden Monopolgewinnen, während größere Teile der Bevölkerung zunehmend Druck und Verzweiflung verspürten. Dadurch seien wirtschaftliche Effizienz und die demokratische Stabilität in Gefahr.

„Sapere aude“ – wage dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Es gibt jede Menge schlauer Ansätze, wie das zurzeit noch existierende Datensammlertum und Unrecht in der jeweiligen Nutzung und Verwertung eingedämmt werden könne, aber noch keine verpflichtende Klausel. Der österreichische Rechtswissenschaftler und Professor am Oxford Internet Institute Viktor Mayer-Schönberger fordert bspw. ein Datenaustausch-Mandat zwischen Unternehmen, um dem Wettbewerb freien Lauf zu lassen. Andreas Weigand, der ehemalige Chief Scientist von Amazon postuliert in seinem Buch „Data for the people“, das Cole zitiert, dass die Verbraucher die Oberhoheit über ihre Daten erhalten sollten. Dementsprechend erstellt er einen Grundrechte-Katalog für Daten. Dieser Katalog soll es ermöglichen, Stück für Stück die Macht über die eigenen Daten zurückzuerobern.  Er verlangt eine Einsicht, die Möglichkeit Daten zu ergänzen oder zu löschen, eine Anonymisierung sowie die Möglichkeit eines Datenumzugs. Es geht bei dieser ganzen Diskussion um ein neu zu definierendes Eigentumsrecht im Zusammenhang mit Daten und informationeller Selbstbestimmung.

Forderung nach einer digitalen Gewerkschaft

Cole zitiert den Tesla-Chef Elon Musk, der bereits 2017 die Regierungen aufgefordert habe, Leitlinien für KI zu bestimmen, bevor es zu spät sei. Seit den von Isaac Asimov aufgestellten drei Grundregeln sei hier nicht viel passiert. Laut WTO werden bis 2021 mehr als 2 Mrd. Verbraucher weltweit online einkaufen und Amazon ist auf dem besten Weg ein marktbeherrschendes Monopol aufzubauen. Amazon kontrolliere schon jetzt fast die gesamte Infrastruktur, da der Konzern für die Händler weltweit Lagerung, Lieferung und Retourenmanagement übernimmt. Es sei Zeit für einen neuen moralischen Kompass. Man brauche eine auf die Bedürfnisse unserer Zeit ausgerichtete digitale Ethik, antatt einer reinen Effizienz- und Gewinnmaximierung. Cole fordert als Konsequenz eine Art digitaler Gewerkschaft für die modernen GAFAS.

Ein sehr spannender Gastkommentar des Futuristen Gerd Leonhard argumentiert mit dem Denkspruch „Technologie kennt keine Ethik – aber ohne Ethik gibt es keine Gesellschaft“ genau in diese Richtung. Zivilisationen werden von ihren Technologien angetrieben, aber sie werden von ihrer Humanität definiert. Technologie ist nicht nur das, was wir suchen, sondern auch, wie wir sie suchen, so Leonhard. Insgesamt ein absolut spannendes Buch, äußerst lesenswert.

Tim Cole: Wild Wild Web, Verlag Franz Vahlen GmbH 2018